Verständigung im Strafverfahren: Angeklagter muss vor seiner Zustimmung belehrt werden

Kurzfassung: Verständigung im Strafverfahren: Angeklagter muss vor seiner Zustimmung belehrt werden Die gesetzlich vorgeschriebene Belehrung des Angeklagten im Rahmen einer Verständigung muss nicht nur vor seine ...
[Bundesverfassungsgericht - 22.09.2014] Verständigung im Strafverfahren: Angeklagter muss vor seiner Zustimmung belehrt werden

Die gesetzlich vorgeschriebene Belehrung des Angeklagten im Rahmen einer Verständigung muss nicht nur vor seinem Geständnis, sondern bereits vor seiner Zustimmung zu der Verständigung erfolgen. Dies folgt aus dem Recht des Angeklagten auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren und dem verfassungsrechtlichen Grundsatz, dass jede Person über ihre Mitwirkung im Strafverfahren frei entscheiden kann. Wird der Angeklagte erst nach seiner Zustimmung zu der Verständigung belehrt, beruhen sein Geständnis und das Strafurteil im Regelfall auf dieser Grundrechtsverletzung. Für eine anderweitige Beurteilung im Einzelfall muss das Revisionsgericht konkrete Feststellungen treffen. Ein mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenes Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts daher aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.
Sachverhalt und Verfahrensgang:
Mit Urteil vom 19. Dezember 2012 verurteilte das Landgericht Berlin den Beschwerdeführer wegen Betäubungsmitteldelikten zu einer Freiheitsstrafe von 6 Jahren. Dem Urteil ging eine Verständigung voraus, die der Verteidiger des Beschwerdeführers initiiert hatte. Die Strafkammer stellte dem Beschwerdeführer in Aussicht, eine Freiheitsstrafe von nicht über 6 Jahren und 6 Monaten zu verhängen, wenn dieser u. a. ein glaubhaftes Geständnis ablege und auf sämtliche sichergestellten Gelder und Gegenstände verzichte. Der Beschwerdeführer, sein Verteidiger und die Staatsanwaltschaft stimmten dem Vorschlag der Strafkammer zu; erst anschließend wurde der Beschwerdeführer gemäß 257c Abs. 5 der Strafprozessordnung (StPO) belehrt. Das Geständnis legte der Angeklagte im folgenden Hauptverhandlungstermin eine Woche später ab. Mit seiner Revision rügte der Beschwerdeführer, dass das Landgericht ihn nicht bereits bei Unterbreitung des Verständigungsvorschlages belehrt habe. Der Bundesgerichtshof verwarf die Revision mit Urteil vom 7. August 2013.
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
Die angegriffenen Urteile des Landgerichts Berlin und des Bundesgerichtshofs verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht auf
ein faires, rechtsstaatliches Verfahren und verstoßen gegen die Selbstbelastungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.)
1. Der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit ist im Rechtsstaatsprinzip verankert und hat Verfassungsrang. Der Beschuldigte muss frei von Zwang eigenverantwortlich entscheiden können, ob und gegebenenfalls inwieweit er im Strafverfahren mitwirkt. Eine Verständigung ist regelmäßig nur dann mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens zu vereinbaren, wenn der Angeklagte vor ihrem Zustandekommen über deren nur eingeschränkte Bindungswirkung für das Gericht belehrt worden ist. Nur so ist gewährleistet, dass er autonom darüber entscheiden kann, ob er von seiner Freiheit, die Aussage zu verweigern, (weiterhin) Gebrauch macht oder sich auf eine Verständigung einlässt.
Mit der Aussicht auf eine Verständigung wird es dem Angeklagten in die Hand gegeben, durch sein Verhalten spezifischen Einfluss auf das Ergebnis des Prozesses zu nehmen. Anders als in einer nach der herkömmlichen Verfahrensweise geführten Hauptverhandlung kann er mit
einem Geständnis die das Gericht grundsätzlich bindende Zusage einer Strafobergrenze und damit Sicherheit über den Ausgang des Verfahrens erreichen. Der Angeklagte muss deshalb wissen, dass die Bindung keine absolute ist, sondern unter bestimmten Voraussetzungen - die er ebenfalls kennen muss - entfällt. Nur so ist es ihm möglich, Tragweite und Risiken der Mitwirkung an einer Verständigung autonom einzuschätzen. Die in 257c Abs. 5 StPO verankerte Belehrungspflicht ist aus diesem Grund keine bloße Ordnungsvorschrift, sondern eine zentrale rechtsstaatliche Sicherung des Grundsatzes des fairen Verfahrens und der Selbstbelastungsfreiheit.
Eine Verständigung ohne vorherige Belehrung verletzt den Angeklagten grundsätzlich in seinem Recht auf ein faires Verfahren und in seiner
Selbstbelastungsfreiheit. Im Rahmen der revisionsgerichtlichen Prüfung wird bei einem Verstoß gegen die Belehrungspflicht regelmäßig davon auszugehen sein, dass das Geständnis und damit auch das Urteil hierauf beruht. Kann eine Ursächlichkeit des Belehrungsfehlers für das Geständnis ausnahmsweise ausgeschlossen werden, muss das Revisionsgericht hierzu konkrete Feststellungen treffen.
2. Diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben genügen die angegriffenen Urteile nicht.
Der Bundesgerichtshof verkennt die grundlegende Bedeutung der Belehrungspflicht für die betroffenen Grundrechte. Er schließt ein Beruhen des Geständnisses (und damit auch des landgerichtlichen Urteils) auf dem Verstoß gegen die Belehrungspflicht aus, weil davon auszugehen sei, dass der Beschwerdeführer es auch bei ordnungsgemäßer Belehrung abgegeben hätte. Indes beruht diese Schlussfolgerung nicht auf Feststellungen, die die Willensbildung des Beschwerdeführers konkret in den Blick nehmen. Vielmehr liegt ihnen die generalisierende Annahme zugrunde, dass ein anwaltlich verteidigter Angeklagter jedenfalls dann nicht mehr unter dem Eindruck der zunächst ohne Belehrung geschlossenen Verständigung steht, wenn das nach einer Überlegungsfrist von einer Woche abgelegte Geständnis unter Mitwirkung seines Verteidigers entstanden ist und dieser die Verständigung selbst initiiert hat. Eine solchermaßen vom Einzelfall losgelöste Prüfung, ob das Urteil auf dem Verstoß gegen die Belehrungspflicht beruht, ist mit dem oben genannten Regel-Ausnahme-Verhältnis nicht in Einklang zu bringen.
Es ist nicht auszuschließen, dass der Bundesgerichtshof bei Anwendung des verfassungsrechtlich gebotenen Maßstabs zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre. Aus diesem Grund ist das angegriffene Urteil des Bundesgerichtshofs aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen.
257c Abs. 4 und 5 Strafprozessordnung lauten:
"(4) Die Bindung des Gerichtes an eine Verständigung entfällt, wenn rechtlich oder tatsächlich bedeutsame Umstände übersehen worden sind oder sich neu ergeben haben und das Gericht deswegen zu der Überzeugung gelangt, dass der in Aussicht gestellte Strafrahmen nicht mehr tat- oder schuldangemessen ist. Gleiches gilt, wenn das weitere Prozessverhalten des Angeklagten nicht dem Verhalten entspricht, das der Prognose des Gerichtes zugrunde gelegt worden ist. Das Geständnis des Angeklagten darf in diesen Fällen nicht verwertet werden. Das Gericht hat eine Abweichung unverzüglich mitzuteilen.
(5) Der Angeklagte ist über die Voraussetzungen und Folgen einer Abweichung des Gerichtes von dem in Aussicht gestellten Ergebnis nach Absatz 4 zu belehren."

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