27.10.2014 11:20 Uhr in Gesellschaft & Familie von VolkswagenStiftung

Wie europäisch kann ein Nationaldichter sein?

Kurzfassung: Wie europäisch kann ein Nationaldichter sein?Die wechselvolle Wahrnehmung Schillers im Europa der vergangenen Jahrhunderte war geprägt von Ideologien und InstrumentalisierungenVeranstaltungsbericht ...
[VolkswagenStiftung - 27.10.2014] Wie europäisch kann ein Nationaldichter sein?

Die wechselvolle Wahrnehmung Schillers im Europa der vergangenen Jahrhunderte war geprägt von Ideologien und Instrumentalisierungen
Veranstaltungsbericht zum öffentlichen Abendvortrag am 23. Oktober 2014 im Rahmen der Tagung "Schillers Europa" der Deutschen Schillergesellschaft
"Europas Schiller" mit Prof. Dr. Ute Frevert und Prof. Dr. Peter-André Alt (Moderation)
Ein historischer Blick auf den Dichter
Die Rednerin Prof. Dr. Ute Frevert blickt als Historikerin auf Friedrich von Schiller. Das mag für sich genommen nicht ungewöhnlich sein - inmitten von Sprach- und Literaturwissenschaftlern erlaubten ihre Fragen jedoch einen Wechsel der Perspektiven. Die Deutsche Schillergesellschaft hatte sich als Thema für ihre Tagung im Schloss Herrenhausen die Betrachtung von "Schillers Europa" gewählt: Wie nahm der Dichter die europäischen Staaten wahr, wie beeinflusste dies sein Schreiben? Frevert wendete den Schwerpunkt geschickt zu "Europas Schiller" und untersuchte die wechselvolle Rezeption von Schillers Werken im europäischen Ausland während der vergangenen 233 Jahre, also seit Erscheinen der "Räuber".
Europahymne ohne Worte
Die Rednerin, die als Direktorin den Forschungsbereich "Geschichte der Gefühle" am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung betreut, hatte bereits zum 200. Todestag des Dichters im Jahr 2005 analysiert, welche Aspekte der deutschen Geistes- und Kulturgeschichte sich in der Figur Schillers spiegeln. Ausgehend von der Europahymne fragte Frevert nun, in wie weit sich der Autor der "Ode an die Freude" als Teil einer europäischen kulturellen Identität eigne - und was dabei historisch im Weg stehen könnte. "Bereits der Umstand, dass Beethovens Komposition als Hymne ohne die ihr zugrunde liegenden Worte Schillers funktioniert, lässt über die nationalen Grenzen von Sprache und Dichtung nachdenken", führte Frevert aus.
Während die Stücke Schillers auf deutschen Bühnen bereits zu dessen Lebzeiten regelmäßig gespielt wurden, war die Aufführungsgeschichte in anderen europäischen Staaten nicht nur der jeweiligen Übersetzungspraxis geschuldet. Vielmehr war sie geprägt von politischen, sozialen und kulturellen Zusammenhängen und deren oft dynamischer Veränderung. Europa bedeutete in den vergangenen Jahrhunderten ein häufig schwer zu durchdringendes Gemenge nationaler Interessen. Diese spiegelten sich in der Wahrnehmung Schillers aufs Vielfältigste wider, wie Frevert erklärte. Dabei wurde der Dichter immer wieder zur Symbolfigur von Ideologien und Bewegungen.
Der deutsche Nationaldichter
Eine große Rolle spielte hierbei auch die Vereinnahmung Schillers als deutscher Nationaldichter. "Diese lässt sich beispielsweise an den Feiern zu Schillers 100. Geburtstag im Jahr 1859 ablesen", berichtete Frevert. In London hatte Gottfried Kinkel eine Veranstaltung organisiert, die er selbst eine "Feier deutschen Selbstgefühls und Nationalstolzes" nannte. Schiller sei zunehmend zur Identifikationsfigur einer Nation geworden, erläutert Frevert, die es als staatliche Einheit noch gar nicht gab - und damit zur Verkörperung deutscher Sehnsüchte. Zu einer solcherart instrumentalisierten Dichterperson gingen andere Staaten zunehmend auf Distanz. Bereits im Jahr 1905 war Schiller in Deutschland so stark kanonisiert, dass zu seinem 100. Todestag alle preußischen Schüler einen freien Tag erhielten.
Frankreich und Italien: Dichter der Revolutionäre
Als Reaktion auf solche Nationalisierungstendenzen in der Rezeption Schillers hatten ihn französische Behörden bereits Mitte des 19. Jahrhunderts aus Schulbüchern entfernen lassen - während Goethe und Heine Bestand hatten. Dabei hatte Schiller im Jahr 1792 sogar die französische Staatsbürgerschaft erhalten, für seine Verdienste um den Freiheitskampf gegen die Tyrannei. Bereits 1789 lag die erste französische Übersetzung der "Räuber" vor und wurde während der Revolution zum bedeutenden und beliebten Text, der über lange Jahre in Frankreich die Wahrnehmung Schillers als Autor der Freiheit und Revolution prägen sollte.
Über die französische Revolutionsarmee gelangten die "Räuber" auch früh nach Italien - und wurden dort wiederum zum wichtigen Text im Widerstand gegen die französischen und später auch die österreichischen Besatzer. Durch Giuseppe Verdis Vertonungen eroberte Schiller jedoch vor allem die italienischen Opernbühnen und damit ein breites Publikum. Vor allem "Don Carlos" mit Themen wie Gerechtigkeit, Vernunft und Fortschritt traf einen Nerv in Italien. Von den österreichischen Besatzern wurden die Opern mit Argwohn betrachtet und bei Bedarf zensiert - während Schiller von ihnen zugleich als prominenter Vertreter der deutschsprachigen Kultur präsentiert wurde.
Beliebtheit in Osteuropa und Russland
Als Protagonist politischer und emotionaler Freiheit wurde Schiller auch in Osteuropa wahrgenommen. "Er ist dort vor allem auch ein Dichter der Ghettos gewesen", erklärte Frevert, die "Ode an die Freude" sei, wie viele andere seiner zahlreichen Balladen, ins Hebräische übersetzt worden. Da die Lektüre Schillers, wie aller weltlicher Autoren, von der jüdischen Orthodoxie jedoch verboten war, fand sie im Geheimen statt. In Russland wiederum wurden die von Schukowski prominent übersetzten Balladen als Texte der Romantik gelesen. Sie fanden Eingang in die Schullektüre und erlangten auch in intellektuellen Kreisen größte Beliebtheit. Schiller sei so zu einem der populärsten Dichter Russlands geworden, führte Frevert aus, seine Freiheitsrhetorik sei dort anschlussfähig geblieben und in ihrer Wirkung nicht durch den deutschen Nationalismus eingeschränkt worden.
Individualität statt Instrumentalisierung
"Die Wahrnehmung und Interpretation Schillers hat sich jedoch vor allem in den vergangenen Jahrzehnten auch unabhängig von politischen Systemen und deren Ideologien entwickelt", betonte Frevert und verwies auf ein Treffen von Theaterschaffenden aus sozialistischen Ländern in Weimar im Jahr 1984. Nicht mehr gesellschaftliche Ungerechtigkeiten und Klassenkampf hätten dabei im Mittelpunkt gestanden, sondern Konflikte und Schicksale des Einzelnen, Widersprüchlichkeiten und Leidenschaften.
"Schillers Entnationalisierung im Nachkriegsdeutschland und -europa zeigte zwar erste Erfolge zum Beispiel in seiner inzwischen begeisterten Rezeption auf britischen Bühnen", so Frevert. Im Pariser Théâtre de lEurope jedoch sei seit 1983 nur ein einziges seiner Stücke gezeigt worden - im Gegensatz zu 21 von Shakespeare oder elf von Molière. Schiller werde zwar inzwischen wieder als "Verteidiger europäischer Grundwerte" präsentiert, argumentiert Frevert, seine gesamteuropäische Wiederentdeckung stehe jedoch noch bevor. Vielleicht könne dabei ja auch eine Übertragung in andere Medien helfen, wie der Erfolg von Dominik Grafs Film "Die geliebten Schwestern" ahnen lasse. Der wurde immerhin als deutscher Beitrag für die kommende Oscarverleihung nominiert.
Thomas Kaestle

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