Syrien: Auswirkungen des Krieges auf Frauen

Kurzfassung: Syrien: Auswirkungen des Krieges auf FrauenAktivistinnen und andere von allen Konfliktparteien gefangen genommen und misshandelt Frauen werden in Syrien willkürlich verhaftet, gefangen gehalten, kör ...
[Human Rights Watch Deutschland - 03.07.2014] Syrien: Auswirkungen des Krieges auf Frauen

Aktivistinnen und andere von allen Konfliktparteien gefangen genommen und misshandelt
Frauen werden in Syrien willkürlich verhaftet, gefangen gehalten, körperlich misshandelt, eingeschüchtert und gefoltert sowohl von Regierungskräften als auch von regierungsnahen Milizen und Oppositionsgruppen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Am 4. Juli wird der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (CEDAW-Ausschuss) in Genf die Situation der syrischen Frauen überprüfen.
Der 47-seitige Bericht "We Are Still Here: Women on the Front Line of Syrias Conflict" stellt 17 syrische Frauen vor, die in die Türkei geflohen sind. Der Bericht dokumentiert mittels Portraits in Text und Bild, wie sich der Konflikt auf Frauen auswirkt. Die portraitierten Frauen haben Menschenrechtsverletzungen sowohl durch Regierungs- und regierungsnahe Kräfte als auch durch bewaffnete Regierungsgegner erlebt, darunter Liwa al-Islam und extremistische Gruppen wie Islamischer Staat im Irak und Syrien (ISIS). Einige Aktivistinnen und Mitarbeiterinnen humanitärer Organisationen berichteten, dass sie von Regierungs- oder Oppositionskräften bedroht, willkürlich verhaftet, festgehalten und gefoltert wurden. Alle sechs befragten ehemaligen Gefangenen sind körperlich misshandelt oder gefoltert worden, eine Frau wurde mehrfach sexuell misshandelt. Andere Frauen berichteten, dass sie in ihrer Kleidungs- und Bewegungsfreiheit eingeschränkt wurden. Bei willkürlichen Angriffen von Regierungskräften auf Zivilisten wurden mehrere Frauen verletzt oder haben Familienangehörige verloren.
"Frauen werden von der Brutalität des Syrien-Konflikts nicht verschont, aber sie sind auch keine passiven Opfer", so Liesl Gerntholtz, Leiterin der Frauenrechtsabteilung von Human Rights Watch. "Frauen übernehmen immer mehr Verantwortung - entweder freiwillig oder auf Grund der Umstände - und dafür sollen sie nicht mit Einschüchterung, Verhaftung, Misshandlung oder gar Folter bezahlen."
Die Überprüfung durch den UN-Ausschuss ist eine Gelegenheit, auf die Notlage von Frauen in Syrien hinzuweisen - insbesondere darauf, dass die syrische Regierung und viele nichtstaatliche Akteure Menschenrechtsverletzungen gegen Frauen in einem Klima der Straflosigkeit begehen. Der Ausschuss soll die syrische Regierung dazu auffordern, willkürliche Festnahmen und Haft sowie alle Formen von Gewalt gegen Frauen zu beenden, diese Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Während der Überprüfung untersucht der Ausschuss, inwieweit sich staatliche Akteure an ihre Verpflichtungen unter der UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) halten, und empfiehlt Maßnahmen, mit denen die Situation von Frauen und Mädchen verbessert werden kann.
Darüber hinaus sollen der UN-Sicherheitsrat, die syrische Regierung und andere beteiligte Parteien gewährleisten, dass Frauen umfassend und gleichberechtigt bei allen zukünftigen Friedensgesprächen oder Verhandlungen repräsentiert sind und sich an ihnen beteiligen können, genau wie an den anschließenden politischen Prozessen und der Friedenskonsolidierung.
Der Bericht basiert auf Interviews mit 27 geflüchteten Frauen und Vertretern von sieben Dienstleistern in Gaziantep und Kilis in der Türkei, die im März und April 2014 geführt wurden. Mehrere Frauen schilderten, dass sie von Regierungskräften und nichtstaatlichen, bewaffneten Gruppen eingeschüchtert, bedroht oder gefangen gehalten wurden, weil sie sich an friedlichen Aktionen beteiligt haben. Unter anderem haben sie gewaltfreie Demonstrationen organisiert oder an ihnen teilgenommen und notleidende Syrer humanitär unterstützt. Andere Frauen beschrieben ihre Erfahrungen damit, de facto allein für ihren Haushalt verantwortlich oder die Haupternährerin gewesen zu sein, nachdem Regierungskräfte die männlichen Familienangehörigen verhaftet hatten oder diese bei willkürlichen Angriffen bewaffneter Gruppen auf Wohngebiete verwundet oder getötet worden waren.
Die 30-jährige Maisa hat Mitglieder oppositioneller Gruppen medizinisch versorgt und für einen oppositionsnahen Fernsehsender gearbeitet. Im April 2013 wurde sie in Damaskus von Sicherheitskräften der Regierung verhaftet. Sie wurde die ganze Nacht lang mit einem schweren, grünen Schlauch geschlagen. "Sie schlugen mir ins Gesicht. Sie rissen an meinen Haaren. Sie schlugen mich auf die Füße, auf den Rücken, überall." Abhängig von der individuellen Sicherheitslage werden im Bericht nur die Vornamen oder Pseudonyme der portraitierten Frauen genannt.
Auch einige nichtstaatliche, bewaffnete Gruppen haben im Bericht portraitierte Frauen eingeschüchtert und gefangen gehalten. Darüber hinaus haben sie Frauen und Mädchen diskriminierende Regeln auferlegt, die unter anderem ihre Kleidungs- und Bewegungsfreiheit einschränkten. Berivan, eine 24-jährige syrische Kurdin, hat Menschen aus dem belagerten Yarmouk-Camp in Damaskus medizinisch versorgt, als die nichtsstaatliche Gruppe Liwa al-Islam sie gefangen nahm. Sie wurde nach zehn Tagen entlassen, aber als sie versuchte, ihre Behelfsapotheke im Camp wieder zu öffnen, wurde sie von ISIS bedroht, weil sie zwar ein Hidschab (Kopftuch), aber nicht die Abaya, ein locker sitzendes, knöchellanges Gewand, trug, "Sie sagten: ‚Wenn wir dich noch mal so sehen, bringen wir dich um. Wenn wir dich in dieser Gegend wiedersehen, hängen wir dich auf."
Andere Frauen berichteten, dass sie bei willkürlichen Angriffen auf Wohngebiete verletzt wurden oder Familienangehörige verloren haben. Viele sind durch den Konflikt zu den Haupternährerinnen ihrer Familien geworden. Vier von Amals fünf Kindern wurden im Juli 2013 bei einem Bombenangriff auf Aleppo getötet. Kurz darauf erlitt ihr Ehemann einen Schlaganfall, durch den er nun teilweise gelähmt ist und schwer sprechen kann. Die 44-jährige Amal pflegt ihn. Im März ging die Familie in die Türkei, weil sie hoffte, dass er dort medizinisch versorgt werden kann. Derzeit schlafen sie draußen in einem Park und sind auf Lebensmittelspenden angewiesen.
Seit Beginn des Aufstands in Syrien im März 2011 hat Human Rights Watch Untersuchungen in Syrien, der Türkei, dem Libanon, Jordanien und dem Irak durchgeführt, um Menschenrechtsverletzungen aller Konfliktparteien zu dokumentieren, darunter willkürliche Festnahmen und Haft, Folter, diskriminierende Einschränkungen der Rechte von Frauen und Mädchen, Massenhinrichtungen, rechtswidrige Zerstörungen von Stadtteilen und die Anwendung von chemischen Waffen und Brandwaffen.
Nach der Resolution 1325 des UN-Sicherheitsrat und CEDAW, die die syrische Regierung im Jahr 2003 ratifiziert hat, sollen alle Konfliktparteien Maßnahmen ergreifen, um Frauen und Mädchen während des Konflikts vor Gewalt zu schützen, einschließlich sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt. Resolution 1325 und CEDAW verpflichten staatliche Parteien außerdem dazu, die für Verstöße verantwortliche Personen zur Rechenschaft zu ziehen, Frauen medizinisch, psycho-sozial und finanziell zu unterstützen und zu gewährleisten, dass Frauen umfassend und auf allen Ebenen in Friedensverhandlungen und Wiederaufbauprogramme einbezogen werden.
"Die Frauen Syriens haben unfassbare Verluste erlebt. Sie sind Aktivistinnen, humanitäre Helferinnen und pflegen ihre Angehörigen", so Gerntholtz. "Die internationale Gemeinschaft muss die syrische Regierung und die Oppositionskräfte für Menschenrechtsverletzungen an Frauen und Mädchen zur Verantwortung ziehen. Geberländer sollen dabei helfen, den unmittelbaren Bedarf der Frauen zu decken, und sich dafür einsetzen, dass Frauen die Zukunft Syriens aktiv mitgestalten können."
Bildunterschrift:
Die Bilder zeigen Frauen, die in diesem Bericht erwähnt werden. Sie sind alle in die Türkei geflohen, weil sie in Syrien bedroht wurden und der Konflikt in dem Land weiter andauert.
2014 Samer Muscati/ Human Rights Watch

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